Wenn die Welt grau wird

  • Heike Engel leidet an Depressionen.

Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe leiden 17,1 Prozent der Deutschen mindestens einmal in ihrem Leben an einer depressiven Störung. Dennoch ist es ein Tabu-Thema. Heike Engel ist eine, die darüber spricht.

Stundenlang sitzt Heike Engel da und starrt Löcher in die Luft oder fixiert scheinbar willkürliche Punkte im Raum. Sie kann nicht sagen, wie viele Stunden sie schon so dasitzt. Eigentlich müsste sie die Wohnung saugen, aber sie schafft es nicht. Sie fühlt sich, als stehe sie vor einem Berg an Arbeit, den sie nicht bewältigen kann. Ihr Handy klingelt. Sie geht nicht ran, schaut nur, wer angerufen hat und legt das Handy wieder auf den Wohnzimmertisch. Und dann ist da ständig dieser eine Gedanke in ihrem Kopf: „Ich will so nicht mehr leben.“

Tagtäglich plagen sie die schlechten Gedanken, Suizid-Gedanken, der Wunsch zu sterben. Sie denkt darüber nach, wie schwierig alles ist, wie sinnlos das Leben und wie wertlos sie selbst ist. Der Schmerz ist kaum auszuhalten. Deshalb macht die Seele zwischendurch immer wieder komplett dicht. „Dann fühle ich diesen Schmerz nicht mehr. Aber auch sonst nichts mehr. Als wäre ich innerlich tot“, sagt sie.

Schließlich gipfelt die schlimmste Depression ihres Lebens darin, dass sie zur Rasierklinge greift und sich die Pulsadern aufschlitzt. „Man will einfach nur, dass es aufhört.“ Ihr Mann findet sie rechtzeitig und bringt sie ins Krankenhaus. Es folgt ein siebenwöchiger Aufenthalt im Vivantes-Klinikum in Berlin-Neukölln.

Der Gedanke, wertlos zu sein

Den Gedanken, wertlos zu sein und nicht mehr leben zu wollen, kennt sie bereits aus ihrer Jugendzeit. Viel musste sie früh durchmachen. Fast scheint es zu viel zu sein für ein Leben. Im Herbst 1968 kommt sie zwei Monate zu früh zur Welt. Als Baby erkrankt sie an einer Hirnhautentzündung, was zu einer Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung führt. Die erste Klasse muss sie wiederholen. „In der Schule wurde ich gemobbt, weil ich so doof war“, sagt Heike Engel. Vom Sport-Unterricht wird sie aufgrund einer angeborenen Fehlstellung der Hüfte befreit.

Als die Noten immer schlechter wurden, machte ihr Vater Druck. Er war schwerer Alkoholiker und Prügel standen auf der Tagesordnung. „Meine Mutter hat immer versucht, mich in Schutz zu nehmen, ist aber oftmals gescheitert, weil sie selbst geschlagen wurde“, erinnert sich Heike Engel. Eigentlich war ihre Mutter schon immer unglücklich mit ihm, hatte aber Angst, sich zu trennen. Sie hatte immer wieder Affären mit anderen Männern. Irgendwann ist der Vater dahintergekommen. „Da hat er meiner Mutter den Hals zugedrückt, während ich danebenstand“, erzählt Heike Engel. Damals war sie 14. Als die Mutter zusammensackte, rannte Heike mitten im Winter, barfuß und mit einem Nachthemd bekleidet, aus der Wohnung und rief um Hilfe, bis schließlich die Polizei kam. Daraufhin trennten sich die Eltern.

Der Start ins Leben

Heike blieb bei ihrer Mutter in der Wohnung und von da ging es ihr besser. Mit 18 fing sie als Packerin in einer Kaffeefabrik an und jobbte nebenbei in einer Kneipe. Was als Aushilfe begann, machte ihr bald so großen Spaß, dass sie den Job in der Kaffeefabrik aufgab und seither nur noch in der Gastronomie arbeitete. Der erste Freund kam. Die grauen Tage rückten in den Hintergrund.

Mit Anfang 20 lernte Heike Engel ihren ersten Mann kennen. Nach kurzer Zeit heirateten sie und bekamen zwei Kinder. Und als ihr Mann zum Trinker wurde, seinen Job verlor und das wenige Geld vom Amt verzockte, versoff und für Drogen ausgab. „Um Miete und andere laufende Kosten bezahlen zu können, musste ich betteln gehen“, erklärt die 53-Jährige.

Die Depression kam zurück. Damit die Gedankenspirale aufhörte und um den Schmerz zu betäuben, griff sie selbst zur Flasche. Schließlich trennte sie sich von ihrem Mann und kam mit ihren Kindern zunächst bei einem Freund, dann im Frauenhaus unter. Nach vier Wochen war jedoch klar: Das geht so auch nicht, weil sie dort ständig beklaut wurde.

Die junge mutter entschloss sich dazu, ihre Kinder bei ihrem Mann zu lassen, bis sie ihr Leben wieder im Griff hatte – eine schwere Entscheidung für sie: „Ich war aufgrund meiner Depressionen kaum in der Lage, mich um irgendetwas zu kümmern.“

Ein langer Kampf um die eigenen Kinder

Ihre Kinder bekam sie fast drei Jahre nicht zu Gesicht, weil die Schwiegermutter an das Jugendamt schrieb, dass Heike heroinabhängig sei. „Es war ein langer Kampf mit Anwälten und dem Familiengericht“, erzählt die 53-Jährige. Aber letztendlich durfte sie ihre Kinder wieder sehen. Schnell wurde klar, dass der Vater sich um die beiden kaum kümmerte; „die Kinder waren ungepflegt und hatten Läuse“, erklärt Heike Engel. Der Vater ist durch die Trennung so weit abgesackt, dass er drogensüchtig wurde. Das weiß Heike auch von ihrer Tochter Jennifer, die ihr erzählte: „Papa zieht immer so ein weißes Pulver in die Nase.“

Jennifer kam daraufhin zur Mutter und der kleine Pascal zur Schwiegermutter. Für ihn hat Heike Engel das Sorgerecht an die Schwiegermutter abgetreten. „Der Kleine hatte eine sehr enge Bindung zu seiner Oma, zu mir dafür kaum. Deshalb war das auch so in Ordnung“, meint sie. In der Zwischenzeit fand sie eine Anstellung in einer Kneipe, lernte dort ihren zweiten Mann kennen und zog nach kurzer Zeit zu ihm. Als ihre Tochter zu ihnen kam, erwartete sie ihr drittes Kind. Und bis die kleine Sina zur Welt kam, war alles geregelt. „Und dann war das Leben schön“, betont Heike Engel. Selbst die Trennung nach sieben Jahren war im Guten.

Die schlimmste Phase ihres Lebens

Die schlimmste Depression ihres Lebens hatte die Berlinerin Anfang 2020, sie dauerte mehrere Monate. Ende 2019 wurden aufgrund von Tumoren Gebärmutter und Eierstöcke entnommen. In sechs Wochen hatte Heike Engel zehn Operationen, weil sie sich Krankenhauskeime eingefangen hatte und sich alles entzündete. „Das hat sehr geschlaucht“, sagt sie. Mit der Entfernung der Eierstöcke setzten sofort die Wechseljahre ein – der Hormonhaushalt war völlig durcheinander. Das war letztlich der Auslöser.

„Während einer depressiven Phase breche ich sämtliche sozialen Kontakte ab“, erklärt Heike Engel. Ihre Freunde wissen mittlerweile bei Funkstille, dass es ihr schlecht geht. „Sie heißen es nicht für gut, aber sie finden sich damit ab, weil sie in der Situation einfach nichts machen können“, fügt sie hinzu. Deshalb ihr Tipp: sich professionelle Hilfe zu holen. Allein der Austausch mit Depressiven tue wahnsinnig gut, so Engel, weil man sich verstanden fühlt. Ihr größter Fehler war es, so lange damit zu warten. Zum einen musste sie erst begreifen, was mit ihr los war. Zum anderen brauchte sie lange Zeit, um darüber reden zu können.

Als Heike Engel im Mai 2020 in die Klinik kam, konnte sie kaum reden. Die Depression war so schlimm, dass sie zum Mutismus führte. Die ersten drei Wochen nahm sie an keinen Therapien teil. „Man musste mich mehr oder weniger dazu zwingen“, erzählt sie. Nach und nach half ihr das breite Angebot der Klinik zurück ins Leben. Gut tat ihr die Ergotherapie – sie fand Ablenkung und Freude im Malen, Basteln und Spielen. Außerdem hatte sie regelmäßig Gespräche mit der Ärztin und bekam starke Medikamente verabreicht. Das Bedarfsmedikament Lorazepam, das schwer abhängig macht, konnte sie zum Glück wieder absetzen. Das Antidepressivum nimmt sie weiterhin.

Das Leben ist schön. Trotzdem.

Auch heute noch ist die Berlinerin regelmäßig bei einer Psychiaterin, mit der sie sich austauschen kann. Sie malt, bastelt, fährt Fahrrad und genießt die Zeit mit ihrem dritten Mann, den sie vor knapp drei Jahren kennenlernte. Ihre Motivation, zu leben: Ihre Kinder, ihr Mann und wieder so zu sein, wie sie war. „Ich bin eigentlich ein sehr humorvoller, geselliger, lebenslustiger Mensch mit Helfersyndrom – trotz der ganzen Erfahrungen in der Kindheit. Außerdem stehe ich immer wieder auf bin ich eine Kämpferin“, betont sie.

Seit einem halben Jahr fühlt sie sich wohl. Sogar eine eigene Selbsthilfegruppe für Depressive hat sie ins Leben gerufen. Dort kann jeder erzählen, was ihm guttut und weniger guttut, oder man unternimmt gemeinsam etwas, zum Beispiel in den Zoo fahren oder kochen. Sie erklärt: „Das Gefühl, anderen zu helfen, baut mich ungemein auf und ich fühle mich wieder wertvoll im Leben.“

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