Angekommen bei den Wurzeln

  • Ines Kell, Kinderpflegerin

Aufgewachsen in der DDR geht Ines Kell nach der Wende als Köchin nach Bayern. Über mehrere Stationen findet sie schließlich als Kinderpflegerin im Waldkindergarten Purzelbaum in Tüßling ihre Bestimmung.

„Ich wollte immer mit Kindern arbeiten“, betont Ines Kell. „Es hat aber länger gedauert, bis ich das konnte.“ Die 48-Jährige mit den leuchtend roten Haaren ist in der Oberlausitz, in der ehemaligen DDR, geboren und aufgewachsen. Das „Tal der Ahnungslosen“ wurde die Gegend auch genannt, weil dort weder Radio- noch Fernsehsender aus dem Westen empfangen werden konnte.

Wenn sie an ihre Kindheit denkt, ist da eine große Freiheit und Unbeschwertheit. Nach der Schule zog sie los mit den anderen Kindern im Dorf – über Wiesen und Kuhweiden zum Bach oder in den Wald. „Unser Spielradius war fünf Kilometer um unser Haus herum“, meint die Kinderpflegerin. Die Eltern waren beide Vollzeit berufstätig. „Im Osten war das so“, erklärt Ines Kell. Der Vater war Tierarzt, die Mutter Kindergärtnerin. Von ihrer Kindheit zehrt sie immer noch. Dieses Gefühl von „Unbegrenztheit“ will sie den Kindern mit auf ihren Weg geben.

In der DDR wurde der Zensuren-Spiegel für Berufe von Jahr zu Jahr so angepasst, wie gerade Lehrstellen frei waren. Als Ines Kell die Schule abschloss, lag der Schnitt für Kindergärtner – ihrem Traumberuf – allerdings bei 1,0 und den hatte sie nicht. Deshalb lernte sie Köchin. 1990 war sie als erste der Familie arbeitslos. „Nach der Wende hat die Arbeitslosigkeit um sich gegriffen“, sagt sie. „Jeder machte, was er wollte. Über Nacht galten keine Gesetze mehr. Aus einer Gesellschaft, in der alle zusammenhielten, wurde plötzlich eine Ellbogengesellschaft.“

Von der DDR nach Bayern

Auf der Winkelmoosalm in den Chiemgauer Alpen fand Ines Kell vorübergehend eine Anstellung. Anfangs verstand sie kein Wort und dachte: Das soll deutsche Sprache sein? Aber mit der Zeit lernte sie den Dialekt zu verstehen. Was ihr zugute kam: Es waren mehrere Sachsen im Team, denn der Besitzer hatte damals in der Sächsischen Morgenpost inseriert. Der Rest des Personals war sehr aufgeschlossen. „Die haben uns überall mit hingenommen und es war immer lustig“, erzählt sie.

Damals dachte sie: Nach einer Saison gehe ich wieder in die Heimat. „Aber die DDR hat sich ja bis heute noch nicht erholt“, weiß sie. Also tingelte Ines Kell durch Westdeutschland – von Anstellung zu Anstellung. Inzwischen waren auch ihre Eltern arbeitslos. Der Vater hatte eine Stelle als Tierarzt in Waldkraiburg gefunden. Die Mutter zog in die bayerische Kleinstadt nach.

Ihre letzte Stelle als Köchin war im Seniorenheim in Haag, nahe München. „Das erste Mal im Leben hatte ich geregelte Arbeitszeiten und musste nicht dann arbeiten, wenn alle anderen frei hatten. Ich konnte auch mal andere Leute als meinen Arbeitskollegen kennenlernen“, erinnert sich Ines Kell freudestrahlend.

Bandscheibenvorfall als Sprungbrett in den neuen Beruf

Mit Mitte 20 hatte sie einen Unfall und als Folge bekam sie einen Bandscheibenvorfall. Es vergingen Wochen, bis das erkannt wurde. Um Lähmungserscheinungen zu verhindern, musste sie operiert werden. Danach musste ein neuer Beruf her. Ihre Freunde haben sie letztendlich auf den Beruf der Familienpflegerin gebracht. Dabei unterstützt man Familien im Haushalt, beim Kochen und bei der Kindererziehung, wenn etwa die Mutter wegen eines Beinbruchs ausfällt. „Die meinten: Das würde genau zu mir passen, weil ich so gut mit Kindern umgehen und hervorragend kochen könne“, sagt die 48-Jährige. Also absolvierte sie die Ausbildung zur Familienpflegerin in Stockdorf, im Landkreis Starnberg. Sie unterstreicht: „Diesen Beruf hab ich mit Leib und Seele gemacht.“

In den 90er-Jahren veränderte sich jedoch das Berufsbild: Es wurden vermehrt Tagesmütter eingesetzt. Familienpfleger kamen nur noch in Haushalte mit „richtig schweren Fällen“, etwa bei Psychosen, Depressionen oder Alkoholsucht. Für Ines Kell stand fest: Ein neuer Beruf musste her. Sie gründete ihre eigene Familie und war drei Jahre im Erziehungsurlaub. In dieser Zeit überlegte sie: Was will ich eigentlich? Ihr letztes Geld gab sie für ein Persönlichkeitscoaching aus, „mit lauter Geschäftsleuten und mir“, grinst sie. „Es war sehr teuer und ich hab es niemandem weiterempfohlen.“ Aber am Ende hatte sie eine Antwort: Ihr Wunsch war es, mit Kindern in der Natur zu arbeiten. Ihre Kinder sollten sie jederzeit auf Arbeit besuchen können, so wie sie das bei ihren Eltern konnte.

Als Kinderpflegerin im Waldkindergarten angekommen

Ein Jahr lang jobbte sie im Waldkindergarten in Tacherting, parallel machte sie die Ausbildung zur Waldpädagogin. „Mein Praktikum begann schon in meiner Kindheit, als ich meine Mutti regelmäßig in den Ferien im Kindergarten besuchte“, sagt sie. Dann lief der Arbeitsvertrag aus und sie suchte nach einer Erzieherin, mit der sie gemeinsam einen Waldkindergarten gründen konnte. Über eine Freundin lernte sie Irmgard Zollitsch kennen, die nach einer Elternpause in den Beruf zurück wollte und denselben Plan hatte. Zusammen setzten die engagierten Frauen den Plan in die Tat um: Sie schrieben das Konzept, hielten Ausschau nach einer Gemeinde und einen Träger und gründeten den Waldkindergarten in Tüßling.

Eine Hürde gab es allerdings noch zu meistern: Ein halbes Jahr vor der Eröffnung erfuhr Ines Kell von der Regierung, dass der Beruf der Familienpflegerin nicht mit Kinderpflegern gleichgestellt wird. Deshalb musste sie kurzerhand die Ausbildung im Schnelldurchlauf nachholen und die Prüfungen an der Berufsschule ablegen. „Das war ein Spießrutenlauf“, so Ines Kell. „Alleinerziehend zwei kleine Kinder versorgen, die Neugründung des Kindergartens vorantreiben und nebenbei noch auf die Prüfungen vorbereiten.“ Als Externe wurde man in jedem Fach geprüft: Mathe, Deutsch, Musik, … „Ich war ausgebildete Köchin und Familienpflegerin und hab etliche Haushalte gemanagt – doch sogar in Hauswirtschaft musste ich eine Prüfung ablegen“, so die 48-Jährige. Für Musik musste sie noch extra ein Instrument lernen. Aber letztendlich schaffte sie alles.

„Die Natur heilt.“

Im September 2009 ging der Waldkindergarten Purzelbaum an den Start. Für kalte Tage stand anfangs ein Bauwagen bereit. Trotz Heizlüfter war es im Inneren so kalt, dass der Tee am Boden gefroren ist, wenn er verschüttet worden ist. Mittlerweile steht am Waldrand eine geräumige Hütte zur Verfügung, die beheizbar ist.

„Die Natur heilt“, lautet das Resümee von Ines Kell. Das habe sie bei den Kindern oft genug beobachtet. „Wir haben mehrmals Kinder aufgenommen, die aus anderen Kindergärten herausgeflogen sind“, erzählt sie. Oft dachte sie: Wo soll denn das Problem an dem Kind sein? „Manche brauchen ganz einfach ab und zu eine Ruhepause oder einen Rückzugsort. Im Regelkindergarten ist das aber kaum möglich“, erläutert Ines Kell. „Der Lärmpegel in konventionellen Kindergärten ist sehr hoch. Was die Kinder dort täglich an Lärm auszuhalten haben – danach fragt kein Mensch.“

Einmal haben die beiden ein schwerbehindertes Kind mit deformierten Fußgelenken aufgenommen. Der Vater bestand darauf, das das Kind keine orthopädischen Hilfsmittel bekommt, sondern barfuß das Laufen lernt. „Das war am Anfang nicht schön anzuschauen. Es ist zwei Schritte gegangen, hingefallen, zwei Schritte gegangen, hingefallen. Aber es ist immer wieder aufgestanden und hat gelacht. Ein sehr lebensbejahendes Kind. Ich hätte schon längst die Schnauze voll gehabt.“ Und nach diesen zwei Jahren im Wald konnte das Kind tatsächlich laufen – ohne Krücken und Stützen. „Das hätte ich selbst nicht für möglich gehalten, dass sich diese Fehlstellung auf dem Waldboden reguliert”, meint Ines Kell fasziniert.

Die Kinderpflegerin kann sich heute keinen anderen Beruf mehr vorstellen. Sie ist angekommen in ihrem Leben. „Jedes Jahr ist neu, jedes Kind ist anders. Das macht es spannend und vielfältig. Und ich bin froh, dass die Eltern uns ihre Kinder anvertrauen.“

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