Der Arbeitsplatz von Irmgard Zollitsch ist der Wald. Die Erzieherin und Waldpädagogin hat 2009 den Waldkindergarten Purzelbaum in Tüßling gegründet. Warum sie den Wald einem Kindergarten mit Dach und Wänden vorzieht…
„Schaut mal, Unterwasserpilze“, ruft die vierjährige Emilia begeistert, während sie mit dem Finger auf leuchtend gelbe Schwammerl deutet. Sie sehen ein bisschen so aus wie Korallen. Es sind Momente wie diese, die Irmgard Zollitsch zum Lachen bringen und zufrieden stimmen. „Ich hab mir immer eine Arbeit gewünscht, die sinnvoll ist. Und Kinder auf das Leben vorzubereiten und ihnen einen bewussten Umgang miteinander und mit der Natur zu vermitteln – das ist sinnvoll“, ist die gebürtige Salzburgerin überzeugt.
Waldkindergärten wie in Tüßling gibt es aktuell etwa 2.000 in Deutschland. Die Idee stammt aus Skandinavien. Mitte der 50er-Jahre gründete die Dänin Ella Flatau den ersten Waldkindergarten. In den 90er-Jahren breitete sich die neue Form der Kinderbetreuung hierzulande aus.
Der wesentliche Unterschied zum konventionellen Kindergarten ist, dass die Kinder die meiste Zeit im Freien verbringen. Für kalte Temperaturen steht in Tüßling eine Holzhütte bereit. Außerdem gibt es kaum vorgefertigtes Spielzeug. Gerade das ist für Irmgard Zollitsch so bedeutsam: Denn die Kinder spielen mit dem, was sie im Wald finden – Äste, Zweige oder Blätter. Weil das Naturmaterial nicht eindeutig definierbar ist, müssen die Kinder es im Spiel genau benennen. Ein Stück Rinde ist dann zum Beispiel ein Traktor, ein Tannenzapfen ein Telefon und ausgebreitete Blätter stellen eine Pizza dar.
Ohne Begeisterung kein Lernen
In ihrer Ausbildung lernte Irmgard Zollitsch viele Übungen kennen, um spielerisch die Grobmotorik, die Feinmotorik und die Sprache von Kindern zu trainieren, bis sie schließlich vorschulreif sind. „Wenn man aber Kinder einfach in der Natur spielen lässt, lernen sie von sich aus alles, was sie brauchen. Wir müssen ihnen nicht ständig unser Wissen aufdrängen und Themen vorgeben“, weiß Irmgard Zollitsch.
Der Ansatz in Tüßling ist situationsorientiert: Einmal haben die Kinder zum Beispiel einen Reh-Schädel im Wald gefunden und wollten wissen, was das ist. Daraus ist dann ein Projekt über den Körper entstanden. „Ein anderes Mal haben wir Weintrauben geschenkt bekommen, daraus haben wir dann Traubensaft gepresst“, nennt Irmgard Zollitsch ein weiteres Beispiel. So entstehen immer wieder Projekte – teilweise von den Kindern angeregt, teilweise von Außenstehenden, teilweise von den Erzieherinnen selbst.
„Je länger ich hier arbeite, desto klarer wird mir, was der Wald für die Kinder bedeutet“, betont die 55-Jährige. Der Wald regt die Sinne an und bietet zahlreiche Sinneseindrücke im Wandel der Jahreszeiten. „Außerdem können die Kinder sich hier auch zurückziehen und die Stille wahrnehmen, wenn sie das brauchen“, betont Irmgard Zollitsch. „In einem normalen Kindergarten mit 25 Kindern auf engem Raum geht das gar nicht.“ Auch für das Immunsystem und die Abwehrkräfte ist der tägliche Aufenthalt an der frischen Luft optimal.
Mit 14 auf die Kindergartenschule
Den Weg der Erzieherin verfolgt Irmgard Zollitsch schon früh: Im Alter von 14 Jahren geht sie – auf Wunsch der Eltern – vom Gymnasium ab und besucht die Kindergartenschule in Salzburg. In der Ausbildung kann sie ihre Kreativität voll ausleben: Sie bastelt, webt, näht und musiziert. Nach vier Jahren ist sie fertig und tritt eine Stelle in Gaißau, etwa 30 Kilometer südlich von Salzburg, an. Regelmäßig nimmt sie an Fortbildungen teil und absolviert zusätzlich die Ausbildung zur Montessori-Pädagogin.
Drei Jahre später wird sie schwanger und bekommt ihre Tochter. Nach der Elternzeit fängt sie bei der Lebenshilfe an. Die Arbeit mit schwerst behinderten Kindern erfüllt sie jedoch nicht, wie sie erzählt: „Ich war dort mehr Pflegekraft als Erzieherin. Mir ist die Kreativität total abgegangen.“ Deshalb kündigt Zollitsch und beginnt wieder als Kindergärtnerin in Gaißau, wo gerade eine Stelle frei wird.
Bei einer Skitour in den Berchtesgadener Alpen lernt die Erzieherin ihren heutigen Mann kennen. Mit ihm zieht sie erst nach Ergolding, in der Nähe von Landshut, später nach Winhöring. 1993 kommt ihre gemeinsame Tochter Lucia zur Welt, 1996 ihr Sohn Jonas. Die ältere Tochter, Camilla, geht in einen Montessori-Kindergarten in Landshut. „Meine beiden jüngeren Kinder waren im Kindergarten in Winhöring“, erzählt Irmgard Zollitsch, „ich hab zwar nach Alternativen gesucht, aber es gab hier einfach keine.“
Ein Kindergarten im Wald
Auf der Suche nach alternativen Kindergärten wird Irmgard Zollitsch auf einen Waldkindergarten in Tacherting aufmerksam. Neugierig auf die neue Form der Kinderbetreuung hospitiert sie dort. Danach steht für sie fest: „In so einem Kindergarten will ich arbeiten.“ Das Problem ist nur, dass es im Landkreis Mühldorf und Altötting nichts dergleichen gibt. „Ich dachte: So einen brauchen wir hier in der Gegend“, so Zollitsch.
Sie erzählt einer Freundin von ihrer Idee: ein Kindergarten in der Natur – hier vor Ort, nach dem Vorbild in Tacherting. Diese Freundin meint, sie kenne jemanden, der genau dasselbe wolle, und macht sie schließlich mit Ines Kell bekannt. Gemeinsam verfolgen sie das Ziel, einen Waldkindergarten zu gründen.
Die Erzieherin und die Kinderpflegerin fahren von Gemeinde zu Gemeinde. Sie organisieren Infoabende und halten Vorträge, um das Konzept bekannt zu machen. Die Idee stößt auf Anklang. In Töging gibt es jedoch zu wenige interessierte Eltern, in Altötting finden die zwei keinen geeigneten Platz. In Tüßling gibt der Bürgermeister sein OK und auch die Eltern haben Interesse. „Mit unseren Fahrrädern haben wir den Ort nach dem perfekten Platz durchforstet und sind schließlich fündig geworden“, erinnert sich Irmgard Zollitsch. Die Idee nimmt Form an – die AWO Oberbayern übernimmt die Trägerschaft und die zwei machen weiter Werbung.
Waldkindergarten Purzelbaum in Tüßling geht an den Start
Im September 2009 geht der Waldkindergarten Purzelbaum an den Start. Als Unterschlupf dient anfangs ein Bauwagen ohne Isolierung und mit einfach verglasten Fenstern. Zwei Heizlüfter erzeugen nur heiße Luft, können den Bauwagen aber nicht nachhaltig erwärmen. Das entspricht nicht ganz den Vorstellungen von Irmgard Zollitsch. „Uns sind dort drin die Füße abgefroren“, erinnert sie sich. Mittlerweile steht den Waldkindern und ihren Erzieherinnen aber eine geräumige Holzhütte mit Heizung zur Verfügung.
Im ersten Jahr waren acht Kinder im Waldkindergarten Purzelbaum. Aktuell gibt es 20 Plätze. Als integrativer Kindergarten sind auch immer wieder verhaltensauffällige Kinder dabei. Irmgard Zollitsch betont: „Wir nehmen alle Kinder so, wie sie sind.“ Gerade hyperaktive Kinder, die aus anderen Kindergärten herausgenommen werden müssen, weil sie für die Gruppe nicht tragbar sind, können hier ihren Bewegungsdrang voll ausleben und kommen im Wald zur Ruhe. Die Erzieherin versichert: „Die Natur ist heilsam.“
Irmgard Zollitsch hatte früher nie daran gedacht, einen Kindergarten zu leiten, aber sie ist stark an dieser Aufgabe gewachsen: „Ich hab mehr Selbstbewusstsein, kann zu Dingen stehen und übernehme gerne Verantwortung“, sagt sie. „Und wenn ich traurig bin, wenn die Kinder in die Schule übergehen, dann denke ich mir: Alles richtig gemacht.“ Jedes Jahr an Buß- und Bettag dürfen die Schulanfänger noch einmal kommen. Auch zum Tag der offenen Tür werden die „Großen“ eingeladen. „Unsere Waldkinder kommen immer wieder gerne hier her. Auch das ist eine Bestätigung, dass wir eine gute Arbeit machen“, freut sich die 55-Jährige.
Für die Zukunft wünscht sich Irmgard Zollitsch eine zweite Gruppe für Kinder ab zwei Jahren, die vielleicht nur stundenweise oder an ein paar Tagen in den Wald kommen. Sobald sie genug Anfragen hätte, könnte sich ihr Wunsch erfüllen.