Der Agraringenieur Gabriel Erben aus Polling hat ein klares Ziel. Er will, dass sich der komplette Landkreis Mühldorf selbstständig mit Lebensmitteln versorgen kann und dabei zugleich Artenvielfalt, Klima und Bauern stärken.
Am liebsten würde Gabriel Erben eine imaginäre Glocke über die Region stülpen. Er würde sich die Einwohnerzahl und die zur Verfügung stehenden landwirtschaftlichen Flächen im Landkreis Mühldorf anschauen. Dann würde er berechnen, was wir brauchen, um unsere Grundnahrungsmittel hier zu erzeugen. Ein einfaches Gedankenspiel, das der 1,90 Meter große Agraringenieur in die Tat umsetzen will. „Corona hat gezeigt, wie abhängig wir von fragilen Lieferketten sind. Vieles kommt von weit her und ist an extrem getaktete Lieferzeiten gebunden“, konstatiert Gabriel Erben. „Das muss nicht sein.“
Der 34-Jährige ist einer der beiden leitenden Köpfe der solidarischen Landwirtschaft Lenzwald in Polling bei Mühldorf. Verantwortung und Ernte teilen – das ist das Prinzip der Solawi. Produzenten und Konsumenten schließen sich im Verein zusammen und finanzieren gemeinsam die Jahreskosten der Landwirtschaft. Die Verbraucher sichern sich langfristig hochwertige, regionale und nachhaltige Lebensmittel – ohne lange Transportwege und ohne unnötige Verpackung.
Ein fundamentaler Unterschied zur freien Marktwirtschaft: Man kann die Lebensmittel nicht kaufen, weil sie gar keinen Preis haben. Man zahlt nur kostendeckende Beiträge, die transparent und von beiden Seiten mitbestimmt sind. Geld und Lebensmittel sind damit entkoppelt. Durch die Abnahmegarantien der Ernteanteile können Landwirte und Gärtner weitgehend frei von Marktzwängen wirtschaften.
„Wir müssen die Agrarwende hinkriegen.“
Aktuell versorgt die Solawi Lenzwald 121 Erwachsene und 58 Kinder wöchentlich mit frischem Gemüse. 47 Kulturen werden auf einem Hektar über das ganze Jahr angebaut und geerntet. Dazu gehören Karotten und Kartoffeln, Wurzelgemüse, Tomaten, Paprika, Auberginen und Zucchini. Gabriel Erben denkt aber weitaus größer und langfristiger als andere. Für ihn geht es um die Ernährung der Menschen – und zwar vor der eigenen Haustür. „Wir müssen die Agrarwende hinkriegen und die bestehenden Höfe umbauen“, sagt Gabriel Erben. Diese müssen seiner Meinung nach wieder klein und vielfältig Lebensmittel produzieren. Die meisten Betriebe sind jedoch groß und völlig spezialisiert.
Die solidarische Landwirtschaft ist für ihn „das fortschrittlichste System, das wir aktuell haben, um die wahren Kosten für Lebensmittel darzustellen und tatsächlich zu decken.“ Das heißt, die Kosten werden weder auf andere Länder noch auf die nächste Generation abgewälzt. Kurzum: Solawi ist die Zukunft, die dringend aus der Nische heraus muss.
Derzeit gibt es mehr als 300 Solawis in Deutschland – dagegen stehen laut Statistischem Bundesamt fast 247.000 konventionelle Betriebe. 2011 gründete sich hierzulande das Solawi-Netzwerk. Damals stieß auch Gabriel Erben auf das Konzept. Nach seinem Studium der Geoökologie in Bayreuth reiste er mit seiner damaligen Freundin nach Indien. In der Planstadt Auroville, die 1968 von Spirituellen, Hippies und Aussteigern gegründet wurde, half er mehrere Monate auf einer Farm mit. Dort arbeitete man nach den Prinzipien des Natural Farming. Die Idee ist, so wenig wie möglich in den natürlichen Kreislauf einzugreifen. „Das war sehr beeindruckend“, erinnert sich Erben, „aber auch sehr viel Handarbeit.“
Zwar gab es für die Lebensmittel eine zentrale Abnahmestelle in Auroville, allerdings wurden dort unterirdische Preise gezahlt. Die meisten Aurovillianer hätten überhaupt keine Ahnung von Landwirtschaft, begründet Erben das Dilemma. Deswegen hat der Leiter der Farm damals begonnen, die Ernte – in Kisten abgepackt – an Abnehmer zu verkaufen, die bereit waren, den gerechten Preis dafür zu bezahlen.
Neue Form der Vermarktung
Zurück in Deutschland war der gebürtige Hamburger, der in Kempten aufwuchs, voller Euphorie für diese Idee der Vermarktung. Er dachte: Wenn es so etwas in Deutschland gäbe, würde ich sofort mitmachen. Dann bemerkte er: Das gibt es ja wirklich. 2012 begann er sein Master-Studium „Ökologische Agrarwissenschaften“ in der hessischen Kleinstadt Witzenhausen und wurde Mitglied in der Solawi Witzenhausen, eine der ersten im Land.
Als er in Bayreuth studierte, dachte er noch nicht daran, Landwirt zu werden. Das Studium war sehr wissenschaftlich angelegt. Es ging viel um Forschung im Bereich Gewässer, Botanik und Bodenkunde. Aber er merkte auch: Viele Akademiker sind in einer abgehobenen Welt, die neue Impulse nur sehr langsam aufgreift. „Wir brauchen dringend mehr Ressourcen, Forschung und Förderung für Solawi. Ein Lehrstuhl oder eine ganze Fakultät zu Solawis würde die Sache voranbringen“, betont Gabriel Erben.
Die Vorstellung davon, was er beruflich machen will, festigte sich erst in Indien und mit dem Schritt, Agrarwissenschaften zu studieren. Während des Studiums kam öfter der Gedanke, etwas Praktisches zu lernen. „Ich war hin- und hergerissen, aber den Schritt zur Ausbildung hab ich dann doch nie gewagt“, erzählt Erben. Dafür legte er ein Urlaubssemester ein und ging für fünf Monate auf einen Hof in Pente, nahe Osnabrück, ebenfalls solidarisch organisiert. Dort konnte er in der Tiefe erfahren, wie so ein Hof aussehen kann.
Solawi Lenzwald geht an den Start
Zum Hof Pente gehörten damals 200 Mitglieder und eine Fläche von 50 Hektar. Auf dem Betrieb wurde alles außer Milchprodukte angeboten: Es gab eine Gärtnerei, die Gemüse produzierte, Obstbäume, Schweine zum Schlachten, Rinder, die mit ihrem Mist die Wiesen düngten, Schafe für die Landschaftspflege, Wald für die eigene Hackschnitzel-Anlage und es wurde Getreide angebaut und an den Bäcker im Ort geliefert, der im Gegenzug einmal pro Woche mit Backwaren kam. „Es war unglaublich zu sehen, dass wir uns von dem, was da ist, ernähren“, sagt Gabriel Erben. Gleichzeitig waren auch hier die Löhne noch deutlich zu niedrig. Damals kam bei ihm die Frage auf: Funktioniert das Konzept überhaupt, wenn weiterhin Menschen so über ihre Belastungsgrenzen gehen? Darüber schrieb er schließlich 2015/2016 seine Masterarbeit.
Mit Abschluss des Studiums rückte die Berufswahl näher. Er dachte: Entweder mache ich eine Ausbildung oder ich finde eine Solawi, bei der ich anfangen kann. Am Ende seines Studiums lernte er per Zufall den Gärtner Tassilo Willaredt und seine Frau Sonia kennen. Die beiden lebten auf einer Hofgemeinschaft in Polling bei Mühldorf am Inn. Tassilo fasste damals den Plan, den Selbstversorger-Hof zu einer solidarischen Landwirtschaft zu erweitern, und fragte Gabriel, ob er einsteigen wolle. Nach ein paar Wochen Schnuppern war klar, dass die beiden zusammen weitermachen. Im Februar 2017 ging die Solawi Lenzwald an den Start. Die erste Hofführung fand im April statt.
Während Tassilo Willaredt die Gärtnerei verantwortet, ist Gabriel Erben für die Organisation der Solawi zuständig: Finanzen, Werbung, Website und Mitglieder finden. Die Zahl der Interessenten wächst von Jahr zu Jahr: 2017 waren es 20 Mitglieder, 2018 etwa 35, 2019 waren 45 dabei. Trotzdem hatte sich der Agraringenieur immer ehrgeizigere Ziele gesteckt. Er ist sich sicher: „Wenn wir nicht limitiert wären, was das Land angeht, dann wären wir schon größer und weiter entwickelt.“
Bewusstsein für die Bedeutung von Landwirtschaft muss steigen
„Wenn die Solawis nicht größer und nicht mehr werden, werden wir immer in der Nische bleiben“, fürchtet Gabriel Erben. Eine der größten Hürden sei der Landzugang, so der 34-Jährige: „Es ist total schwer, an Flächen zu kommen.“ Die Flächenverteilung geht entweder über den Preis oder über Beziehungen. Die Pachtpreise steigen immer weiter – die hohen Preise können teilweise nur noch über Förderungen bewältigt werden, mit denen zum Beispiel Biogas-Betriebe von der Politik unterstützt werden. Da seien die Förderungen falsch verteilt, kritisiert Erben.
In fünf Jahren würde Gabriel Erben gerne eine Fläche von zehn Hektar bewirtschaften. Neben Gemüse will er dann auch Getreide anbauen und verarbeiten. Sein Ziel sind 300 bis 350 Mitglieder. „Erst dann lassen sich angemessene Löhne für Gärtner und Landwirte zahlen“, weiß er. Denn die Kosten steigen nicht linear. Der Beitrag, der derzeit bei durchschnittlich 73 Euro pro Anteil und Monat liegt, könne nach wie vor auf einem moderaten Level bleiben, und trotzdem sei mehr Geld für die Löhne da.
Die beiden Verantwortlichen der Solawi verdienen aktuell 12,50 Euro brutto pro Stunde. Der Mindestlohn in der deutschen Landwirtschaft liegt bei knapp 10 Euro. Allerdings ist das kein Maßstab angesichts der Arbeit der beiden und der gesellschaftlichen Relevanz. Erben betont: „Der Selbstwert von Landwirten muss steigen. Das Bewusstsein über die Bedeutung des Bodens und der Landwirtschaft muss steigen und damit auch die Zahlungsbereitschaft von Konsumenten. Zudem braucht es mehr Geld in der Landwirtschaft.“
Mehrere Ein-Hektar-Gärtnereien zu gründen – das ist zu klein gedacht.
In zehn Jahren ist sein Ziel 200 Hektar Land. Davon soll nur ein Teil bewirtschaftet werden, während die restlichen Flächen mosaikartig wieder zu Wäldern werden könnten. Das ist enorm wichtig, um ein intaktes Ökosystem herzustellen. Mehrere Ein-Hektar-Gärtnereien zu gründen – das ist zu klein gedacht. „Wir sind hier ein total isoliertes Biotop – kilometerweit ist kein Baum zu sehen“, erklärt Gabriel Erben. „Deshalb kommen auch keine Mauswiesel oder Schleiereulen her.“ Die sind aber als natürlicher Feind von Mäusen sehr wichtig.
Gegen diese Art der Landwirtschaft spricht, dass wir bald zehn Milliarden Menschen ernähren müssen und die Flächen knapp sind. Gabriel Erben hält dagegen, dass der hohe Ertrag der konventionellen Landwirtschaft auf einem sehr wackligen Fundament stehe, weil er nur noch mithilfe von Kunstdünger aufrechterhalten werden könne. „Das wird irgendwann zusammenbrechen.“ Deshalb ist es wichtig, den Humus-Gehalt in den Böden wieder aufzubauen, sodass die Erde ohne künstliche Beihilfe fruchtbar ist. „So können sogar höhere Erträge als konventionell erzielt werden“, meint Gabriel Erben.
Darüber hinaus will er in zehn Jahren einen Vollversorgungshof. Dazu gehören für ihn auch Milchprodukte aus einer eigenen Käserei und Rinder, deren Mist ein kostbarer Bodendünger ist. „Vegane Dünger sind nicht annähernd so fruchtbar wie der Mist von Rindern“, sagt Erben. Denkbar wäre für ihn auch, dass vier oder fünf Höfe im Landkreis kooperieren, sich die Maschinen teilen und vom Angebot her ergänzen, etwa wie die Schinkeler Höfe – die solidarische Landwirtschaft in Kiel besteht aus vier Betrieben.
Ein Vorbild für eine umfassendere gesellschaftliche Bewegung ist die Ökoregion Kaindorf in der Steiermark. Dort bekommen Landwirte beispielsweise Geld pro Tonne CO2, die sie binden. Auf diese Weise unterstützt die Politik die Bauern beim Humus-Aufbau. Die Solawi ist für ihn nur ein Baustein. Er will Größeres: „Sauberes Wasser, Lebensmittel, Energieversorgung und Wohnraum als Gemeingut in der Region für die Region.“